Sabine Müller (45) ist nicht nur eine zielstrebige Frau, sie ist auch eine starke Frau. „Ich versuche immer, das Positive im Leben zu sehen. Es gibt für jede Situation eine Lösung und bei Bedarf hole ich mir Hilfe. Das Leben bietet viele Möglichkeiten und ist viel zu schön, um immer Opfer zu sein.“ Sabine Müller ist von Geburt an hochgradig sehbehindert. Die Sehbehinderung ist nicht heilbar und je nachdem, ob sie Kontaktlinsen trägt, beträgt ihre Sehkraft fünf bis zehn Prozent. Sie sieht die meisten Dinge nur verschwommen. Ihr Arbeitsplatz im Büro in der ÖGK-Landesstelle in St. Pölten ist immer aufgeräumt, alles ist an seinem Platz. Auch die drei Bildschirme, die sie zum Arbeiten braucht.
Sabine Müllers Job ist die Verwaltung der Unfallvorerhebungsbögen, die von ihren Kolleginnen und Kollegen in der ÖGK bearbeitet werden. Dank technischer Hilfsmittel, wie einem Bildschirmlesegerät, einer tragbaren elektronischen Lupe für den Kopierer und einer speziellen Software für den Computer und die Bildschirme, ist es für sie aber praktisch kein Problem, ihre Arbeit zu erledigen.
Die zwei nebeneinander angeordneten Bildschirme ermöglichen es ihr, die benötigten Web- oder Dokumentenseiten und die Symbolleiste sehr stark zu vergrößern. Außerdem hat sie sprichwörtlich eine Landkarte der von ihr verwendeten Datenbanken und Programme im Kopf und weiß, wie sie bestimmte Eingabefelder in den einzelnen Programmen mit der Maus finden, anklicken und befüllen kann. „Ich habe alle Symbolleisten im Kopf. Ein Ergebnis jahrelangen Trainings. Meine Texte schreibe ich ganz normal mit dem 10-Finger-System.“
Seit Mitte Jänner 2023 ist die zweifache Mutter aus Gedersdorf bei Krems Behindertenvertrauensperson für die Beschäftigten der ÖGK in Niederösterreich. Sie ist damit Ansprechpartnerin für rund 60 Kolleginnen und Kollegen mit Behinderung. Dafür beginnt sie Mitte März eine Ausbildung zur zertifizierten Behindertenvertrauensperson. „Das ist für mich eine schöne neue Aufgabe und eine Herausforderung.“
Um zu ihrer Arbeit zu kommen, ist Sabine Müller aufgrund ihrer Sehbehinderung auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. „Ich fahre mit dem Bus oder dem Zug an meinen Arbeitsplatz. Die Züge fahren stündlich, was mir sehr entgegenkommt.“ Ihren Wohnort haben sie und ihr Mann danach ausgesucht, wie die öffentlichen Verkehrsverbindungen sind. Ohne gute Verbindungen wäre es für sie nur schwer möglich, in die Arbeit zu kommen.
An Herausforderungen hat es Sabine Müller nicht gemangelt in ihrem Leben. Zum Beispiel in der Schule: Hatte sie in der Volksschule noch Bücher bekommen, die ein Lernen und Lesen mit ihrer Sehbehinderung ermöglichten, war es in der Hauptschule schon schwieriger. Da bekam sie die gleichen Bücher wie alle anderen Schüler*innen. „Ich habe viel über das Gehör gelernt. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben alles, was sie auf die Tafel geschrieben haben, vorgelesen. Das hat mir sehr geholfen.“ Bald nach der Schule arbeitete sie in einem Textilbetrieb als Hilfsarbeiterin und bügelte Kleidungsstücke. Mit 17 Jahren beschloss sie, eine Lehre zu machen, und informierte sich beim AMS, wie sie zu einem Lehrabschluss kommen könnte. Im Rahmen einer Umschulung im BBRZ Linz erhielt sie die Möglichkeit, mit 20 Jahren eine Lehrabschlussprüfung als Bürokauffrau zu machen und hängte später noch eine Ausbildung zur Personalverrechnerin an.
Nach der Lehre arbeitete sie für zwei Jahre als Büroangestellte im Kulinarium in Linz, danach ein Jahr bei der CARITAS, bevor sie 2002 als Assistentin bei den Kinderfreunden NÖ zu arbeiten begann. Dort blieb sie bis Ende 2013. In dieser Zeit kamen auch ihre beiden nun schon 20 und 12 Jahre alten Kinder zur Welt. Nach der Geburt ihrer Kinder arbeitete Sabine Müller jeweils Teilzeit. Die zweite Karenz teilte sie sich mit ihrem Mann auf. „Bei meinem ersten Kind war es nicht möglich, einen Kindergarten mit einem passenden Betreuungsangebot am Nachmittag zu finden. Und eine Tagesmutter hat damals sehr viel gekostet. Aber auch später ging es ohne Großeltern nie, weil die Nachmittagsbetreuung in Schulen teuer ist. Wenn ich mir für alle Frauen was wünschen könnte, dann wären das Ganztagesschulen für unsere Kiddies, damit wir Eltern von der Betreuung unserer Kinder bei den Hausaufgaben entlastet werden und Vollzeit arbeiten können.“
2014 wechselte sie in die vormalige NÖGKK, heute ÖGK, wo sie zunächst im Service Center in Krems arbeitete. Dort betreute sie telefonische Anfragen und war im Bereich der Präventionsarbeit tätig. Zu ihren Aufgaben gehörte die Organisation von Vorträgen und sie führte selbst auch Schwangerenberatungen durch. Seit September 2022 arbeitet sie nun in der Landesstelle in St. Pölten. Während ihrer Tätigkeit in der Krankenkasse hat sie auch die Dienstprüfung gemacht und mit Auszeichnung bestanden. „Ich wollte immer gleich wie alle anderen sein und die gleiche Arbeit machen. Darum habe ich auch beschlossen, die Dienstprüfung abzulegen, weil es mir wichtig war, eine Gleichstellung zu erreichen und das Fachwissen zu haben. Dafür musste ich monatelang sehr viel lernen. Ich habe praktisch alles über das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz ASVG, aber auch über das Arbeitslosenversicherungsgesetz und das Allgemeine Pensionsgesetz und viele andere Gesetze und Verordnungen gelernt.“ Mit der Prüfung hat sie auf jeden Fall viel erreicht: Eine erfolgreich abgelegte Dienstprüfung ermöglicht es ihr in Zukunft, auch in anderen Bereichen der Sozialversicherung zu arbeiten.